Tageszeit: 19:00 - 20:00 Uhr

Na hoffentlich ist die Tram bald wieder am Hauptbahnhof angekommen. Ist echt tödlich langweilig. Daniel versucht noch, mir durch ständiges Ins-Gesicht-Fotografieren die Seele zu rauben. Letztlich ist es dann wohl doch eher der Verstand.


Endlich raus aus der Straßenbahn. Fast überrollt uns noch eine andere Straßenbahn (2 Sekunden nachdem dieses Bild entstanden ist), die zum Tiergarten will. Hey, der Fahrer könnte doch sehen, dass wir fotografieren. Ignoranten!
Außerdem finde ich, dass "Tiergarten" viel schöner klingt als "Zoo". Die Tiere dort sollten lieber mal die letzten Wochen ohne Flocke-Terror genießen.
Wir sind heute entschieden zu oft in Bahnhofsnähe. Gibt es denn keine anderen interessanten Orte in dieser Stadt oder engt sich unser Horizont immer weiter ein?

Wir entdecken eine Wand aus Strukturbeton und ich kämpfe mit der Kamera, um ihr genau die Tiefenschärfe zu entlocken, die ich will - ich verliere. Bei Oberflächen mit starker Struktur gibt es eh ein paar Dinge, die ich Beton vorziehe - Baumrinde zum Beispiel - wenn möglich die meines Lieblingsbaums im Park des Schlosses Fantaisie in Donndorf.
Struktur im allgemeinen ist etwas, was unserem Twentyone24-Tag fehlt. Naja, jetzt nach 20 Stunden brauchen wir auch nicht mehr damit anfangen.

In einem Gebäude, an dem wir vorbeilaufen, findet hinter den großen Fenstern eine Art Gesprächskreis statt. Die Teilnehmer wirken alle etwas esoterisch angehaucht. Eine derartige Ansammlung von hennaroten Haaren und orangenen Wickelgewändern habe ich lange nicht gesehen.
Als Daniel und ich frech durch die Scheibe fotografieren und den Leuten zuwinken, ernten wir nicht nur die üblichen Mondkalb-Blicke, sondern völlige Irritation. Vor allem die Frau mit der orangefarbenen Prinz-Eisenherz-Frisur sieht recht konfus aus. Ist doch schon mal nicht schlecht.
Daniel und ich scherzen über mögliche Themen dieses skurrilen Gesprächskreises. Unsere Ideen erscheinen allerdings doch etwas abwegig und wir schlurfen weiter. Ach ja, das hier waren unsere Vorschläge:

"Allerlei Leckeres aus Balkonblumen"
"Heilschmalz im Wandel der Zeit"
"Rituelle Gesänge der Toilettenfrauen im frühen 19. Jahrhundert".



Auf dem Weg zum Cinecittá kommen wir zum dritten mal an der Stelle vorbei, an der wir zum ersten Mal um 01:18 ein Bild gemacht haben. Der Ort ist wahrlich unspektakulär aber ich finde es trotzdem spannend, aus irgendwelchen Gründen immer wieder hier aufzuschlagen. Wenn Orte ein Gedächtnis haben sollten, dann kämen diesem Hauseingang die zwei Typen mit ihren Knippsen bestimmt ordentlich seltsam vor. Recht hätte der Ort, glaube ich.

Diese Bilder hier entstanden an exakt der gleichen Stelle zu früherer Stunde:


Das Cinecittá Kino ist hell erleuchtet und man sieht schon von außen, dass es innen wie in einem Bienenstock zugeht. Klar, es ist Freitagabend. Vor den Kassen sind lange Schlangen und genau da, wo das Gedrängel am größten ist, entdeckt Daniel eine große Werbung für einen Teenie-Disneyfilm mit einem Loch zum Kopf-durchstrecken. Klar, dass er da seine Rübe reinpressen und sein gewinnenstes Prinzessinnen-Lächeln anknippsen muss. Ich finde, er sieht tatsächlich aus wie eine Prinzessin. Hektisches Massengewusel scheint jegliche Individualität zu killen - jedenfalls nimmt niemand Daniels Grimassen wahr - zum Glück.

Bei einer Gruppe, die vorbeiläuft, kommt mir ein Typ bekannt vor und ich denke minutenlang angestrengt nach (jahaa, auch ICH kann das). Schließlich fällt mir ein, dass ich den Typen im August 2007 auf dem Taubertal Open Air im Schlamm gesehen hatte. Daniel und ich saßen damals vor unsererm Zelt auf dem schlammigen Campingplatz und eben dieser Kerl lief vorbei. wir hielten ihn an und erzählten ihm, dass wir einen Wettbewerb im Auf-dem-Bauch-durch-den-Schlamm-rutschen veranstalten würden und er unser Kandidat sei. Was soll ich sagen - er war sofort einverstanden, was ich bis heute nicht verstehe. Wir steckten ihn in einen großen blauen Müllsack (damit er besser gleitet) und er hechtete sich nach tüchtigem Anlauf bäuchlings vor unser Zelt.
Ich weiß nicht, ob er sich an die Episode erinnern kann, denn er war damals schon etwas in Rockkonzert-Feierlaune.
Oh Mann, warum denke ich nur so langsam? Bis ich fertig bin mit Nachdenken, ist der Typ natürlich schon im Gewimmel des Kinos verschwunden. Wäre ein Spaß gewesen, ihn an seine Zeit im blauen Müllsack zu erinnern.
Ihr glaubt mir nicht? Nicht, dass ich mich rechtfertigen müsste, aber ich hatte damals sogar ein kleines Filmchen davon gedreht.

Voila, Sommer 2007, Taubertail Festival



Jetzt bin ich aber abgeschweift - mein lieber Jolly.


Die momentane Mission lautet, immer tiefer in die Untergeschosse des riesigen Kinos vorzudringen. Obwohl ich schon ziemlich oft hier war, staune ich immer wieder, wie riesig das hier alles ist. Im (gefühlten) 37. Untergeschoß stehen wir lange auf einer Empore und beobachten die Leute an den Bistro-Tischen unter uns. Wir raten, welche Leute wie Pärchen aussehen, wer auf wen scharf ist, sich aber noch nicht traut und wer einfach nur einsam vor sich hin stiert. Macht Spaß und im Nachhinein weiß ich nicht, warum ich von den Leuten nicht ein einziges Bild gemacht habe.

An einer der tausend Theken fotografieren wir das Popcorn. Es erinnert mich an Goldnuggets. Naja, da wir hier tief "unter Tage" sind, könnte es schon sein. Man kann nie wissen.

So, wieder nach oben, bevor ich Platzangst kriege. Im Obergeschoss plauschen wir etwas mit dem Thekenpersonal. Die beiden erzählen uns von den Stoßzeiten kurz vor dem Film und den Durchhängern, während die Gäste sich im Saal von Hollywood bedröhnen lassen.
An der Theke ist schönes grünes und rotes Licht, welches einzufangen mir aber nicht so recht gelingen will.


Als wir auch noch schöne Portraits schießen dürfen, beschließen wir, dass die beiden die Empfänger unserer individuellen Lebkuchen werden sollen. Feierlich überreichen wir der Frau den Lebkuchen mit der Aufschrift "Wurmfortsatz" und dem Mann den mit "Nasenhaarentferner". Obwohl sie nicht wissen, was der Scheiß soll, freuen sie sich, ... glaube ich zumindest.

(Anmerkung: 4 Monate später habe ich den Mann an einer anderen Kinotheke entdeckt und angesprochen. Er hat mit breitem Grinsen felsenfest beteuert, dass er den Lebkuchen trotz der ekligen Aufschrift sofort verschlungen hätte. Mein Held!)

Irgendwie scheinen im Cine nur schöne Menschen zu arbeiten. Ist bestimmt ein Einstellungskriterium.

Beim Fotografieren der Tellerstapel verfallen Daniel und ich gleich wieder berufsbedingt in Programmierer-Slang.
Daniel meint, dass das ja wohl ein astreiner "Stack" sei und demnach nach dem Motto "first in, last out" funktionierte. Wo er Recht hat, hat er Recht.
Bei "first in, last out" fällt mir ein, dass ich seit Jahren versuche, beim Einkaufen die Sachen so im Einkaufswagen abzulegen, dass nach zweimaligem Umschichten an Kassenlaufband und dem Transport zum Auto die empfindlichen Sachen wie Gemüse oder Eier im Kofferraum oben zu liegen kommen. Ein einfaches "first in, last out" reicht hier nicht. Ehrlich gesagt habe ich es noch nie richtig geschafft.

Das Cine hat auch eine Dachterrasse, auf der man nett sitzen kann und einen geilen Blick über den Fluß auf Altstadt und Burgberg hat. In Vorbereitung auf den Sommer (?) stehen schon Fackeln rum. Die Brenner sehen eher aus wie Handgranaten. Wenn da mal im Baumarkt beim Einkaufen nichts durcheinandergekommen ist.

Er: Erna, wo sind eigentlich meine Handgranaten?
Sie: Weiß ich doch nicht Erwin, aber ich bin so froh, dass unserer Dachterrasse mit den neuen Fackeln jetzt so gemütlich ist.
Er: Du sollst die Türen nicht immer so zuknallen - oder was war das eben?

Der Besitzer des Cinecittá hat seine Wohnung gleich neben der Dachterrasse - ziemlich komplett verglast. Tja, als Preis dafür, einen der schönsten Blicke auf die Stadt zu haben, muss er wohl in Kauf nehmen, dass ihm alle Welt beim Vollzug der Ehe (super Begriff, oder?) zuschauen kann. Geld alleine macht eben auch nicht glücklich - oder zufrieden.

Nachdem wir auf der Dachterrasse wieder die vorher erworbenen Grade Körpertemperatur verloren haben, müssen wir uns noch ein paar Minuten im Inneren rumdrücken um wieder warm zu werden.
Diesmal geht es ganz runter an eine Theke, die wirklich ganz abgelegen und einsam ist. Ich muss an den ältesten der Star Wars Filme denken, in dem der junge Luke Skywalker auf seinem öden Planeten rumhockt und sagt "Wenn es ein helles Zentrum im Universum gibt, dann ist man auf diesem Planeten am Weitesten davon entfernt".

Wir fragen die beiden Mädels an der Theke, welches Produkt sie am allerschlimmsten fänden bzw. was sie am seltensten verkauften. Sie antworten wie aus einer Kehle: Aktivmalz Malzbier.
Meix und ich beschließen, dieses ominöse Aktivmalz zu probieren. Nun ja, es schmeckt wirklich ziemlich scheiße.
Die beiden Kellnerinnen sind noch viel lustiger als die Leute an der anderen Theke und unglaublich schlagfertig. Nachdem eh kein Kunde in Sicht ist, haben sie sogar Zeit, was in unser Büchlein zu schreiben.

Hier ist die Anekdote der beiden Cine-Girls:
Kunde: Kleine süße Pommes bitte.
Wir: Sie meinen Popcorn, oder?
Kunde: Häh? Was hab ich gesagt?
Wir: Pommes.
Kunde: Pommes? Ha ha ha (lacht sich 5 Minuten weg). Nein, ich meine Popcorn.
Wir: Gut, dass sie es sagen, sonst hätten wir ihnen jetzt süße Pommes gemacht.
(--> Wir haben gar keine Pommes).


Danach vertrauen uns die beiden noch die Lieblingsverprecher ihrer Kunden an:

Machos anstatt Nachos
Eiskonfetti anstatt Eiskonfekt
Puffreis anstatt Popcorn.


Saulustig. Besonders die "Machos".



Ein Gruppe Kino-Besucher kommt und will Getränke kaufen. Daniel und ich beschließen, den Umsatz von Aktivmalz anzukurbeln und loben laut das süffige Getränk.

Daniel (laut): Mein Aktivmalz schmeckt heute wieder super. Was trinkst Du da eigentlich, Udo?
Udo: (laut): Daniel, ich habe mich heute auch für ein Aktivmalz entschieden und bin mit meinem Entschluß sehr glücklich. Wirklich köstlich.
Daniel (lauter): Udo, wusstest Du, dass die Zutaten von Aktivmalz aus biologischem Anbau stammen?
Udo (noch lauter): Daniel, das hört sich ja toll an. Aktivmalz schmeckt also nicht nur super, sondern ist auch gesund und zudem alkoholfrei.
Kino-Besucher (ignorant): 2 Cola-Light bitte.
Udo und Daniel (schmeichelnde Stimme): Entschuldigung, sie sollten Aktivmalz eine Chance geben. Ein göttliches Getränk.
Kino-Besucher: ...und salziges Pocorn in klein, bitte.
Udo und Daniel (leicht verzweifelt): Aber Aktivmalz...
Kino-Besucher: Wir wollen aber Cola-Light und kein Aktivmalz.
Basta.

Ist es denn wirklich so schwer, Menschen zu verführen. Wie haben das dieses Bionade-Heinis geschafft, ganz Deutschland von der hippen Öko-Plörre zu überzeugen?

Unser Büchlein haben wir viel zu selten benutzt während des Tages. Die beiden vergessen (?) jedoch, ihre Geschichte mit ihren Namen zu signieren.

Die beiden scheinen sich blind zu verstehen und ihre Sätze sind voller kleiner Anspielungen, die offenbar nur sie selber verstehen und die zu ständigem Gelächter führen.
Auf unsere Nachfrage, warum sie nie Aktivmalz tränken, sagen sie, dass während der Arbeit nur Wasser gratis sei.
Da geht es Daniel und mir im Büro schon besser, da die Firma alle Getränke zahlt. Daniel würde seinen Arbeitstag ohne mehrere Liter Coke Zero wohl nicht überleben und hat deshalb meist einen ganzen Kasten als eiserne Reserve unter seinem Schreibtisch (kein Witz).

Schade, dass wir unsere Lebkuchen schon verschenkt haben. Die beiden Cinecittá-Mädels an der abgelegenen Luke-Skywalker-Theke hätten sie echt verdient gehabt.

[ Udos Bilder dieser Stunde bei Flickr (größere Auflösung)... ]

Kino ist angesagt. Wir watscheln mehrmals durchs ganze riesige Gebäude und ich habe Angst, dass Udo mich einfach an irgendeiner Ecke stehenlassen wird und ich mutterseelenalleine und verzweifelt nach stundenlanger Suche irgendwann die Kassiererin bitten werde, ausrufen zu lassen: Der kleine Daniel sucht seinen Udo!
Da hilft es auch wenig, dass Udo mit hervorragendem schauspielerischem Talent eine Biene simuliert. Wie man auf dem Foto unschwer erkennen kann wurde ganz offensichtlich Udo als Vorlage der BeeMovie-Darsteller benutzt.

In irgendeinem Winkel treffen wir dann Barpersonal, das uns würdig genug erscheint für eine ganz besondere Ehre: Nicht nur, dass wir die beiden reichlich knipsen, wir überreichen ihnen auch feierlich unsere beiden handbeschriebenen Lebkuchen. Nur zur Errinnerung: "Wurmfortsatz" und "Nasenhaarentferner"!
Selbstverständlich sind die beiden mehr als gerührt... Ich will gar nicht dran denken, was deren Lebensgefährten von ihnen halten werden, wenn die beiden nach Hause kommen und freudestrahlend berichten. Sie: "Du-hu Scha-ha-tz, schau mal, ich habe heute von wildfremden Typen einen Lebkuchen geschenkt bekommen, sogar mit Beschriftung!" Er (leicht eifersüchtelnd): "Toll. Haste wieder recht mit ihnen geflirtet, hmm? Was steht denn drauf? 'In Liebe, Dein Peter' vielleicht? Oder 'Für immer Dein'?" Sie: "Nasenhaarentferner."

Ein paar Meter weiter beginnen wir dann eine ausführliche Diskussion über Malzbier, das uns zwei Damen hinter der Theke andrehen wollen. Malzbier ist ja das typische "Ich bin noch zu jung um Bier zu trinken, will aber trotzdem so tun als ob"-Getränk. Zugegebenermaßen hat mir das Gebräu nie sonderlich geschmeckt, als ich klein war und ich denke, es muss noch eine andere Zielgruppe als kleine Buben zwischen 6 und 9 Jahren geben, sonst würden die das Zeug im Kino gar nicht verkaufen. Vermutlich gibt es auch die "Ich trinke keinen Alkohol und bin total alternativ, will aber trotzdem dazugehören und trinke deshalb Malzbier" Fraktion. Oder es gibt tatsächlich Leute, die es wirklich mögen. Oder die, die mit dem Auto gekommen sind.
Natürlich kosten wir dieses edle Getränk auf der Stelle (natürlich nicht, ohne uns vorher das Haltbarkeitsdatum nennen zu lassen), fangen an lauthals Werbung zu machen und versuchen die umstehenden Menschen von der hohen Qualität des Gebräus zu überzeugen. Was uns leider nicht gelingt. Das Malzbier ist offensichtlich alles andere als ein Verkaufhit, was uns auch die Damen bestätigen. Kein Wunder, wenn man mich fragt. Immerhin posieren die Mädels schön für uns, verraten uns alle Geheimnisse des Thekenpersonals und wir haben eine ganze Weile Spaß dabei, ihnen beim Arbeiten zuzusehen. Wir haben heute Urlaub, übrigens.

Kleine Anmerkung am Rande: Inzwischen haben wir die Mädels wieder getroffen. Wieder im Kino. Wieder hinter der Theke. Sie haben immer noch nicht mehr Malzbier verkauft. Dafür haben wir ihnen noch eines abgenommen.
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